Eine Rede anläßlich einer Demo gegen den Krieg vor unserer Haustür

Diese Rede wurde am 27. 3. 2022 auf einer Demo gehalten und ich möchte sie meinen Lesern nicht vorenthalten:

Der 24. 2. ist für uns alle eine Zäsur, eine Zäsur, die den Traum einer von Rationalität und Augenmaß, von gegenseitigen Wirtschaftsverflechtungen als stabilisierendes Element bestimmten Welt mit einen lauten Knall platzen ließ. Mit den brutalen Überfall auf die Ukraine hat Putin seine Unfähigkeit als Diplomat unter Beweis gestellt. Mit seinem revisionistischen Überfall eines Nachbarlandes begann ein Albtraum – ein Albtraum für die Menschen in der Ukraine, ein Albtraum für die Menschen in den anderen Nachbarländern Russlands, ein Albtraum in der Welt, wo plötzlich Getreidelieferungen ausfallen und elende Not droht aber auch ein Albtraum für das Russische Volk. Von einen Diktator mit dem eigenen Land den Abgrund gerissen zu werden muss schwer zu ertragen sein.
Bei mir war der erste Impuls eine lähmende Hilflosigkeit, die von der Entschlossenheit, das Richtige tun zu müssen, abgelöst wurde.

Und nein – mir fehlt das Verständnis dafür, wenn jemand sagt, man müsse auch Putin verstehen. Nein, muss man nicht, zumindest nicht, um ihn zu ‚entlasten‘ – mag ja sein, daß er sich die letzten 30 Jahre über Vieles geärgert hat – das heißt aber auch, daß er 30 Jahre Zeit hatte, sich um Diplomatie zu bemühen – er hat diesen Weg bewusst nicht gewählt – Georgien – Tschetschenien – Krim – Ukraine: es ist ein gradliniger Weg der diplomatiefreien Gewalt. Verstehen allenfalls soweit, wie es nötig ist, um seinem Treiben Einhalt zu gebieten, aber ganz bestimmt nicht, um dieses Treiben zu entschuldigen. Wir haben es nicht sehen wollen, daß dahinter ein revisionistisches Kalkül steht, das die Wiederherstellung der alten Sowjetunion eben auch mit brutaler Gewalt vorsieht.
Aber Politik ist die Kunst, das ‚Jetzt‘ zu managen und die Zukunft zu sichern. Vergangenen Zeiten nachzuhängen und diese um jeden Preis wieder anzustreben ist zum Scheitern verurteilt.

In dem ganzen Getöse auf internationaler Spitze kann ich nur das besonnene Agieren von NATO und USA, die praktizierte Einigkeit der demokratischen Staaten bewundern. Bidens Rede gestern in Warschau war ein großartiger Beweis dafür, daß man bestimmt auftreten kann, daß man Entschlossenheit projizieren kann ohne mit gefletschten Zähnen den Atomkrieg anzudrohen. Wenn ‚das‘ rum ist, wird es sehr viel aufzuräumen geben.

Aber lassen wir die große Politik dort, wo sie hingehört.
Es ist ja nicht so, daß wir uns zurücklehnen könnten und gespannt darauf schauen, wie sich ‚die Lage‘ entwickelt. Das ist nicht NETFLIX, sondern die brutale Wirklichkeit.
Das ‚Richtige tun‘ geht natürlich auch außerhalb der ‚großen‘ Politik – ganz konkret und ganz nah, indem wir Flüchtlingen helfen. – durch Quartier, durch Beratung im Umgang mit Behörden, durch Unterstützung derer, die Menschen bei sich aufnehmen.
Ich habe natürlich volles Verständnis dafür, daß nicht jeder Flüchtlinge aus der Ukraine bei sich aufnehmen kann – aber ich kann nur an jeden appellieren, seine Möglichkeiten gewissenhaft zu prüfen und dann zu handeln.
Wir haben 4 Personen bei uns aufgenommen (2 Mütter mit Kind, die Ehemänner müssen kämpfen) und sind von einer überwältigen Welle der Hilfsbereitschaft aus der Nachbarschaft förmlich überrollt worden. Angekommen nach 2600 km quer durch Europa in 3 Tagen bestand der gesamte Besitz aus 2 kleinen Taschen und 2 Kinderrucksäcken. Per Nachbarschaftshilfe sind sie nun mit allem Nötigen versehen. Meinen ganz herzlichen Dank dafür.  Und jeden Tag vergewissern sie sich, daß ihre Männer noch leben. Das muss eine für uns unvorstellbare Belastung sein.

Ich kann Ihnen versichern, es ist eine Umstellung, mit der umzugehen man lernen kann. Es ist aber auch direkte Hilfe und keine Symbolhandlung.

Und bei aller möglicherweise sogar berechtigter Kritik an der Stadt: die  wurden genauso überrascht, wie wir alle – es ist nicht zu erwarten, daß man dort von 0 auf 100 wie in der Formel 1 kommt. Immerhin ist ein Anfang gemacht, es sind Sprachkurse organisiert, die Menschen können sich (wenn auch mit langen Wartefristen) anmelden und bekommen Zugang zu Geld und Gesundheitsversorgung.

Und ja, auch das Gute kann immer noch verbessert werden – aber es ist wichtiger, daß die Dinge jetzt funktionieren, als daß sie in 2 Jahren perfekt funktionieren. Bitte helfen Sie so wie Sie es können.

In einer perfekten Welt löste sich das Problem mit dem Verschwinden Putins und seiner Pudel – aber selbst wenn wir jetzt alle laut rufen ‚Putin muss weg‘ wird das außer einem guten Gefühl nichts bringen. Es wird aber auch nichts besser, wenn wir stattdessen laut Kumbaja rufen. Entschlossenheit und Augenmaß in der hohen Politik und Hilfsbereitschaft vor der eigenen Tür ist es, was jetzt nottut. Packen wir’s an wo wir können und wünschen wir unseren politischen Schlüsselfiguren weiterhin Klugheit und Augenmaß!