Am 14. 12. erschien in der FAZ ein Artikel, in dem dargelegt wurde, dass der Liberalismus ein Auslaufmodell sei. Dem muss ich ganz entschieden widersprechen. Liberalismus ist heute wichtiger denn je. Die Tatsache, dass Liberalismus gerne als ausschließlich wirtschaftsorientierte Zügellosigkeit unter dem Neusprech Begriff ‚Neo-Liberalismus‘ verunglimpft wird, spricht nicht gegen den Liberalismus, sondern mehr gegen diejenigen, die diesen Begriff als Schimpfwort verwenden.
Liberalismus war noch nie ein Synonym für Zügellosigkeit – ganz im Gegenteil.
Liberalismus ist im Besten Sinne ein Gesellschaftsentwurf im Sinne Kants und seines Imperativs. Liberalismus ist der Gegenentwurf zu einem Paternalismus, der von der extremen Grundannahme ausgeht, dass die Menschen damit überfordert seien, die Konsequenzen ihres Handelns nicht nur zu sehen, sondern auch zu ertragen.
Das gipfelt darin, dass sich viel zu oft jemand findet, der für Verfehlungen Erklärungen bereithält und erklärt, dass diese ja zwangsläufig eintreten mussten. Damit wird die Verantwortung für eigenes Handeln quasi wegerklärt und – ganz im Sinne des Mittelalters – finsteren Mächten zugeschrieben.
Das wird dann gerne als Begründung für noch mehr Regelungen herangezogen, die derlei Verfehlungen ‚im Keim‘ ersticken sollen. Die Erfahrung zeigt, daß das eben nicht funktioniert – Wertebewusstsein lässt sich nicht verordnen.
Werte, die doch eigentlich unser Handeln leiten sollen, werden durch immer mehr und immer feiner ziselierte Regelungen ersetzt. Beunruhigend ist dabei, dass dies niemanden zu stören scheint. Damit einher geht eine Marginalisierung der Werte, die doch unsere Gesellschaft zusammenhalten sollten.
Das führt dazu, dass eher im ‚Buch der Regeln und Vorschriften‘ nachgesehen wird, ob eine Handlung erlaubt ist oder nicht, statt sich selber die Frage zu stellen, ob sich etwas ‚gehört‘ oder eben nicht. Die Folge des Ersetzens von Werten durch Regeln und Gesetze erodiert dadurch eben genau diese Werte, die doch vorgeblich zu schützen sind.
Eine bedenkliche Folge dieser Gesetzesflut ist, die Auflösung des Konsenses darüber, was ‚sich gehört‘ oder eben nicht. Das gipfelt darin, dass ganze Kohorten von Fachleuten und Juristen damit beschäftigt sind, mögliche Lücken in diesem Wust von Gesetzen und Verordnungen zu finden, die dann – ohne die Wertefrage zu stellen – auch genutzt werden.
Ein augenfälliges Beispiel dafür ist der Wirbel um die ‚Cum-Ex‘ Praktiken. Ganz ohne Frage ein verwerfliches ‚Geschäftsmodell‘ – aber leider zur Zeit der Ausführung weitestgehend gesetzeskonform. Es mussten enorme Klimmzüge unternommen werden, diese dubiosen Praktiken vor Gericht zu bringen. Klimmzüge, die schon hart an der Grenze zur Rechtsbeugung liegen. Allein schon die Dauer des ganzen Verfahrens zeigt, wie schwer sich der Gesetzgeber damit tut, hier ein justiziables Unrecht dingfest zu machen. Am Ende bleibt festzustellen, daß diese Gaunereien infolge schlampiger Gesetzgebung und zu detaillierter Feinregulierung möglich waren. Lücken wurden sehr sorgfältig ausgenutzt.
Dies ist (leider) nicht weiter verwunderlich, wenn man sich Flut von – sicher gut gemeinten – neuen Gesetzen betrachtet.
In der aktuellen Legislaturperiode wurden lt. Statistischem Bundesamt (Stand 25. 11. 2020) 708 Gesetzesvorhaben eingebracht – davon wurden 335 im ersten Durchgang des Gesetzgebungsverfahrens beschlossen, weitere 304 Vorhaben wurden im 2. Durchgang verabschiedet, mithin also insgesamt 639 neue Gesetze bis zum 25. 11. 2020. Dazu kommen dann im Durchschnitt noch ca. 3 Ausführungsbestimmungen, die ebenfalls Gesetzeskraft haben.
Wie soll bei dieser Flut von neuen Regelungen die erforderliche Sorgfalt gewahrt bleiben?
Wie soll die Justiz mit einem neuen Gesetz alle 3 Tage zurecht kommen?
Die Verantwortlichen sehen dies selbstverständlich auch – aber deren Lösung ist eben nicht die Rückbesinnung auf Werte, sondern es werden weitere Anstrengungen unternommen, das Geflecht der Regelungen ‚noch sicherer‘ zu gestalten.
Was hat das mit Liberalismus zu tun?
Liberalismus ist der Gegenentwurf zu einer Politik, die auf der Grundannahme von tiefem Misstrauen in die vorgeblich mündigen Bürger agiert. Die Regelungsflut ist ’notwendig‘, weil die Bürger ja sonst ‚nichts als ‚Unsinn‘ anstellen. Dass damit letztendlich keine Rechtssicherheit, sondern neben der Marginalisierung unserer zentralen Werte auch die Rechtsunsicherheit befördert wird, fällt niemandem auf.
Hinzu kommt, dass sich dabei auch Gesetze einschleichen, die nicht der Allgemeinheit dienen, sondern Partikularinteressen von Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft befriedigen. Damit wird letztlich der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet. Warum wird Gruppe A bevorzugt, aber Gruppe B nicht? Die vom GG geforderte Gleichbehandlung wird damit unterminiert. Die meisten der Subventionsgesetze aber auch andere fallen in diese Kategorie.
Der Liberalismus basiert – im Gegensatz zu den mit immerwährendem Innuendo vorgebrachten Anschuldigungen der Zügel- und Regellosigkeit – vor allem einmal auf der Hochachtung vor Werten und auf dem Vertrauen in die Bürger.
Der paternalistische Vorsorgestaat geht von der negativen Grundannahme aus, daß die Bürger keinen moralischen Kompass haben und deshalb durch immer mehr Gesetze und Regeln ‚geführt‘ werden müssen, schon um sie vor den negativen Folgen ihrer ‚eigenen Dummheit‘ zu bewahren.
Damit wird die Notwendigkeit eines moralischen Kompasses zugunsten von Regeln und Verordnungen infrage gfestellt.
Das erstickt Eigeninitiative, fördert Obrigkeitsgläubigkeit statt Achtung von Werten. Frei nach der Maxime ‚erlaubt ist, was nicht verboten ist‘.
Da ist die Planwirtschaft und der Obrigkeitsstaat nicht mehr weit.
Der Liberalismus ist der Gegenentwurf dazu: Er verspricht nicht die (unmögliche) Lösung aller Probleme als bequemes Lebensmodell.
Der Liberalismus geht tatsächlich vom mündigen Bürger aus, der auch gefordert werden muss. Weil das Versprechen, alles zu regeln eben nicht erfüllt werden kann. Es wäre natürlich naiv zu glauben, dass dieser Entwurf bei allen Menschen funktioniert – das ist jedoch bei Weitem keine Rechtfertigung, den paternalistischen Ge- und Verbotsstaat anzustreben.
Der Entwurf des Vorsorgestaates unterstellt seinen Bürgern Unselbstständigkeit, Unfähigkeit und basiert auf einem tiefen Misstrauen in die eigenen Bürger, die dann eben mit Regeln und Verordnungen ‚zur Räson‘ gebracht werden ‚müssen‘. Dieses Misstrauen lähmt Initiative und die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln. Ausserdem wird – wie wir an fallenden Wahlbeteiligungen sehen – das Engagement der Bürger für unsere Gesellschaft schwächer. Dafür werden die Stimmen von Splittergruppen immer lauter – in dieser Kakophonie unterschiedlicher Gruppen, geht der gesellschaftliche Konsens zunehmend verloren.
Der Liberalismus ist ein Entwurf, der grundsätzlich von Vertrauen in die Fähigkeiten der Bürger geprägt ist – was aber trotz aller Angriffe noch nie ‚Regellosigkeit‘ bedeutet hat – dieser Vorwurf ist eine Verleumdung.
Wer sein eigenes Misstrauen in andere Menschen als Begründung für ausufernde Bevormundung heranzieht, verhält sich unredlich. Und es sagt mehr über den Verfechter dieser Ideen aus, als über die für unmündig gehaltenen Bürger. Das Versprechen, ‚jeden‘ vermeintlichen Unsinn wegregulieren zu wollen ist zum Einen nicht einlösbar und zum Anderen wird der Bürger aus der Verantwortung für sein Handeln genommen durch ein: ‚Wir regeln das für Euch!‘
Es ist bezeichnend, daß die Anhänger dieser Doktrin gerne behaupten, sie seien ja ‚vernünftig‘, aber die anderen eben nicht.
Sehr schön aktuell zu beobachten bei den Befürwortern härterer Corona Regeln – 80% der Menschen befürworten dies laut Umfragen. Was hindert diese 80% daran, sich so zu verhalten, wie sie es vom Staat als Regel fordern?
Freiheit ist immer auch die Freiheit, sich unvernünftig zu verhalten – Dummheit und Unvernunft wegregulieren zu wollen ist kein zukunftsträchtiges Modell – erstens funktioniert es nicht und zweitens: wo sollen die Grenzen gezogen werden?
Wer bestimmt, was ‚Unsinn‘ ist?
Muss wirklich jeder vor seiner eigenen Dummheit geschützt werden?
Ist es wirklich förderlich, wenn jeder, der sich von irgendetwas gestört fühlt, die Gerichte bemüht, statt eine Lösung ohne staatliche Einmischung zu erstreben?
Das ist im Extremfall vor allem mal intolerant – wir leben nun mal in einem dicht besiedelten Land – da sind Toleranz und Rücksichtnahme wertvolle Güter. Diese durch Regelungen erzwingen zu können ist ein Irrweg – Einsicht wirkt hier sehr viel nachhaltiger.
Selbstverständlich braucht auch der Liberalismus Regeln und Gesetze – Menschen sind nun mal nicht perfekt und Kriminelle müssen die Konsequenzen spüren. Aber zwischen feingranularer Regulierung und Gesetzen, die den Einhalt der Werte sichern sollen, gibt es ein weites Feld. Daß feingranulare Regelungen keine Rechtssicherheit gewährleisten sieht man regelmäßig, wenn Straftäter überraschend milde ‚davonkommen‘. Dann doch lieber weniger, aber grundlegende Gesetze, die dann auch durchgesetzt werden können.
Nicht zuletzt ist der Liberalismus die Basis unseres Wohlstandes. Kein anderes Modell hat auch nur annähernd solche Ergebnisse langfristig und nachhaltig zustande gebracht. Kein zu stark reguliertes Gemeinwesen hat sich auf Dauer in Wohlstand behaupten können. Ist ja auch kein Wunder – wer Werte durch gehorsames Befolgen von Gesetzen ersetzt, handelt kurzsichtig. Wer auf Gehorsam statt Eigenverantwortung getrimmt ist, kann im Zweifel sehr schnell und geschmeidig seine Loyalität wechseln.
Wollen wir das?
Zugegeben – das autoritäre System China feiert spektakuläre Erfolge – bleibt abzuwarten, wie dauerhaft das sein wird. Und vor allem: DAS ist sicher kein Vorbild. Mal ganz abgesehen davon, daß sich Diktaturen noch nie dauerhaft haben behaupten können.
Georg Nippert, Worms
- 12. 2020